Liebe Eltern,

wir möchten Sie über den heutigen Tag informieren, da wir bei einigen Kindern viel Sorge und Ängste erlebt haben.

Bereits im Bus haben wir festgestellt, dass in Bezug auf die gestrige Bundestagswahl und ihr Ergebnis viele Informationen herumschwirrten. Es gab einige Missverständnisse, die die Kinder sehr beunruhigten und aufbrachten.

Frau Mayer hat sich viel Zeit genommen, um mit den Kindern über die Wahl und das Ergebnis zu sprechen. Dabei hat sie darauf geachtet, dass es sachlich geblieben ist und kindgerecht erklärt wurde. Und am Ende des Gesprächs waren viele Sorgen und Ängste genommen.

Viele Fragen der Kinder sind zunächst von anderen Kindern beantwortet worden. Nicht alles war dabei richtig. Frau Mayer hat sich um Richtigstellung bemüht. Vielleicht aber ist nicht alles klar bei den Kindern angekommen, weil sie wirklich sehr aufgeregt waren. Sollten Ihre Kinder zu Hause darüber berichten, würden wir uns sehr freuen, wenn Sie nochmal mit ihnen über die Ergebnisse der Wahl sprechen könnten, denn manchmal ist gerade ein so komplexes Thema doch sehr schwer mit nur einem Gespräch im Klassenverband zu behandeln.

Zum Schluss des Gesprächs hat Frau Mayer klar gestellt und den Kindern die Sicherheit vermittelt, dass kein Kind in nächster Zeit aus dem Land verwiesen wird. Dies war eine konkrete Sorge einiger Kinder.

Wir hoffen, wir konnten alle Kinder beruhigen und die Missverständnisse ausräumen. Bei Fragen können Sie sich gerne bei uns melden.

Liebe Grüße

Die Klassenlehrerinnen

Diesen Elternbrief habe ich am Tag nach der Wahl erhalten. Und mir drehte sich der Magen um. Das ist so falsch! Kein Kind sollte am Tag nach einer Bundestagswahl mit der Sorge ob sie – oder in unserem Fall Papa, Deutscher mit Migrationshintergrund – demnächst abgeschoben werden wird, zur Schule gehen.

Ich war total entsetzt. Doch noch erschreckender ist eigentlich, dass ich bei allem was seitdem mit unserer Welt passiert ist, gar nicht mehr so entsetzt darüber bin. Nur wenige Wochen später. Ich hatte noch am Abend vor der Wahl in den USA einen ähnlich spontanen Artikel wie diesen geschrieben: Heute entscheiden sie, ob ich mich morgen sicherer oder unsicherer fühle . Und doch hatte ich, als die Sonne am nächsten Tag wieder aufging und ich wie jeden Tag die Brotdosen der Kinder packte und alle wieder heil zu Hause ankamen gedacht, dass das vielleicht doch alles zu weit weg ist und mich nicht so sehr betrifft wie befürchtet. 

Ich erinnere mich noch an stundenlange Telefonate mit meinem damaligen besten Freund zur Abiturzeit. Wir sprachen über alles mögliche – auch über seinen möglichen Wehrdienst und ich verfolgte seine Entscheidung für einen Zivildienst. Ich höre mich noch wie gestern sagen: „Ja dann heißen wir halt Spanien. Ist mir doch egal.“ Als es darum ging, meine Standpunkt warum ich so sehr gegen gewaltvolle Grenzverteidigung bin, zu bekräftigen. Ich war sorglos, jung und weltoffen und hätte es vielleicht sogar Dank jahrelanger Kriegsthematik im Politikunterricht angemessen gefunden, wenn es Deutschland nicht mehr gäbe und fand den Gedanken spannend, plötzlich Spanierin zu sein. Etwas Schlimmeres konnte ich mir damals nicht vorstellen. Ich fühlte mich sicher in der Welt und war fest davon überzeugt, niemals mit jemandem eine Lebenspartnerschaft einzugehen, der Wehrdienst geleistet hatte. Das familiäre Trauma saß mir wohl zu tief in den Knochen. Ich hatte einen Opa, der Kriegsdienst geleistet hatte und dessen Schmerz ich bis heute noch im Bauch spüren kann, wenn ich daran denke. Obwohl ich ihn nie kennen gelernt habe.

Doch Zeiten ändern sich. Zeitenwende nennen sie das was gerade passiert. Und es ist so politisch, wie es privat ist.

Gestern saß ich mit meinen Schulkindern im Kinderzimmer und sprach darüber, dass in Dänemark die Wehrpflicht für Frauen eingeführt wurde. Ich stellte mir meine Tochter bei der Bundeswehr vor und konnte die Bilder nicht zusammen bringen. Und gleichzeitig konnte ich es nicht mehr vollkommen falsch finden. Ich kann nicht mehr sagen: „Na dann wären wir halt Russen. Ist mir doch egal.“ Ist es mir nicht. Auch Amerikanerin möchte ich nicht sein. 

Nach einigen interessanten Fragen und etwas Austausch sagte meine Tochter: „Können wir bitte nicht mehr über Politik sprechen? Das macht mir ein schlechtes Gefühl.“ Und wir hörten auf über Politik zu sprechen. 

Aber das schlechte Gefühl bleibt. Die Unsicherheit bleibt. Die Unsicherheit für die sie am anderen Ende der Welt für uns mitgewählt haben.

Meine Kinder können nicht mehr unpolitisch aufwachsen. Und vielleicht ist das gut. Meine Tochter will Foodsaverin werden – ich bin da noch angemeldet. Vielleicht machen wir das zusammen. Lassen trotzig Wassertropfen auf heiße Steine tropfen und machen irgendwas. Irgendwas das einem ein besseres Gefühl im Bauch gibt als die aktuelle Politik. Ein Lehrer während meiner Abiturzeit sagte, dass er sich wundere wie wenig wir auf Demos sind. Niemand hatte meinen Eltern damals eine Email wie die übrige schreiben müssen. Er hingenen sei seine ganze Jugend lang auf der Strasse gewesen und wir wären seiner Meinung nach so furchtbar uninteressiert. Waren wir. Wir haben uns so sicher gefühlt, haben unseren Wohlstand und Frieden so selbstverständlich genommen. Und ich glaube viele von uns, wollen das immer noch nicht begreifen.

Meine Kinder haben Kinder in der Schule neben sich sitzen, deren Väter gerade im Krieg kämpfen. Meine Kinder fragen sich, wie sie vermeiden können Soldat sein zu müssen. Und meine Kinder wollen abends nicht mehr über etwas reden, wovon ich noch gar nichts wusste als ich Grundschülerin war: Politik.

Sie wissen was Demokratie ist, was Nazis sind und können globale Ungerechtigkeit erkennen. Meinen Kindern bringe ich bei, mit echten Sorgen umzugehen. Gedanken zu lenken und auch ganz bewusst Positives zu genießen. Nicht zu viel zu grübeln.

Aber mir wird auch wieder bewusst, wie sehr meine Kinder die Gleichgültigkeit und unseren Anspruch an Wohlstand ausbaden müssen. Ich sehe ihre schmalen Schultern und ihre großen Augen und durch sie sehe ich Hoffnung und von ihrem Schultern nehme ich meine Verantwortung. Meine Verantwortung mich zu engagieren. Meine Verantwortung sie aufzuklären und zu beschützen. Meine Verantwortung ihnen Oasen zu schenken. Und meine Verantwortung ihnen die Überzeugung zu vermitteln, dass das alles nicht nur passiert sondern beeinflussbar ist. Wenigstens ihre Mama soll ihnen ein sicheres Gefühl im Bauch geben, wenn sie später an Politik denken. Auch wenn sie selbst ein schlechtes Gefühl im Bauch hatte, wenn sie heute an Politik denkt.

Hinterlasse einen Kommentar